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Schließlich steigen wir zu viert am 21. Juli 1979 in Hamburg in die Eisenbahn, um nach Ed, einem Ort am südlichen Zipfel des Stora Le, zu fahren. Dort gibt es ein Lager für Bahngut und so haben wir bereits einige Tage zuvor unsere in Packsäcke zerlegten Boote auf die Reise geschickt. Die Säcke als Reisegepäck mitzunehmen erschien uns unmöglich, denn neben der normalen Zeltausrüstung kommt diesmal noch eine gehörige Menge an Verpflegung hinzu, die wir in Rucksäcken und Pappkartons mit uns führen. Immerhin müssen wir damit rechnen, innerhalb der ersten Woche - bis zum Treffpunkt mit Otto - keinem Ort, geschweige denn einem Lebensmittelgeschäft zu begegnen. Also wollen wir in Ed die Boote von der Bahn abholen und auf dem dortigen Campingplatz in aller Ruhe beladen.

Im Zug, kurz vor unserem Ziel, kommt ein Zollbeamter zur Routinekontrolle und fragt interessiert nach dem Inhalt unserer zahlreichen Gepäckstücke - insbesondere nach dem der Pappkartons. Als wir mit "Tütensuppen" antworten, fühlt er sich auf den Arm genommen und wir dürfen auspacken. Erst nachdem mehrere Sitze mit Häufchen von Suppentüten belegt sind, bemerkt er seinen Irrtum und es ist ihm peinlich, uns in Streß gebracht zu haben, denn jetzt müssen wir schleunigst wieder einpacken: Ed ist gleich erreicht. Unsere (wenn auch bescheidenen) Vorräte an Hochprozentigem sind ihm damit entgangen.

Dummerweise ist es Sonnabend und die Stelle für Bahngut hat am Wochenende geschlossen. So lagern unsere Boote heute und morgen unerreichbar in einem Schuppen und wir schleppen erst einmal Sack und Pack auf den Campingplatz - der natürlich überhaupt nicht in Bahnhofsnähe und auch nicht am Stora Le liegt, sondern am kleinen, separaten Lilla Le südlich davon. Als uns in der ersten Nacht dann noch eine angebrochene Flasche Apfelkorn aus dem Zelt geklaut wird, sinkt unsere Stimmung zunächst mal auf Minusgrade und wir beschließen Die Generalitäten - das sind drei Flaschen Captain Morgan Rum mit 73 Vol.%, die wir zum Teeverdünnen an kalten Tagen und in noch kälteren Nächten eingepackt haben - demnächst immer mitzunehmen, wenn wir unser Lager verlassen müssen und niemand als Wache zurückbleibt.

Abendstimmung am Stora LeMontag: Heute geht es aber wirklich los. Boote vom Bahnhof abholen, zusammenbauen und zum Campingplatz paddeln. Beladen und wieder zurück zum Bahnhof, denn dort müssen wir umsetzen, um zum Stora Le zu gelangen. Ein mühsames Geschäft, weil großartiges Sommerwetter herrscht, der Hafen mit Einsetzrampe weit außerhalb des Ortes liegt, wir keinen Bootswagen besitzen und die beladenen Boote auch nicht tragen können. Aber die Schweden sind freundliche und hilfsbereite Menschen. Man leiht uns im Hafen einen Bootswagen aus und wir schleppen schweißtriefend unsere Urlaubsgeräte durch den halben Ort. Bewaldetes SteiluferEs wird Nachmittag, bis wir endlich in See stechen können. Heute sind wir mehr gelaufen, als gepaddelt und so schlagen wir unser erstes Nachtlager gerade noch in Sichtweite des Ortes in einer kleinen Bucht bei Årbol am linken Seeufer auf. Weit sind wir ja noch nicht gekommen, aber immerhin: Die Leinen sind losgeworfen!

Am nächsten Tag genießen wir die herrliche Landschaft bei immer noch allerbestem Sommerwetter. Auf dem westlichen Seeufer Wald, Wald und noch einmal Wald und auf der östlichen Seite senkrecht abfallende, ebenfalls bewaldete Felsen, deren Höhe wir aus dem Boot kaum richtig schätzen können - vielleicht 20 oder 30 Meter, vielleicht auch mehr. Der See spiegelt das Blau des Himmels, der hier und da mit ein paar weißen Wölkchen verziert ist, zwischen den Ufern und uns ist, als ob wir mitten durch einen Urlaubsprospekt fahren. Landeplatz bei KilnäsetAuf jeden Fall ein imposantes, ja fast kitschiges Szenario, durch das wir hindurchpaddeln. Strömung gibt es keine, lediglich ein leichter Rückenwind schiebt, auch wenn wir mal faul die Arme hängen lassen. Wollen wir etwas trinken, schöpfen wir kristallklares Wasser aus dem See, rühren etwas Orangensaftkonzentrat hinein - und fertig. Verirrt sich ein kleiner Fisch, von denen es hier erstaunlich viele gibt, ins Glas, wird er einfach wieder ausgeschüttet.

Zum Abend suchen wir eine Stelle, die auf unserer Karte mit TC bezeichnet ist. Das sind Orte, an denen ein Herzhäuschen (Törrklosett) steht, wo Abfallbehälter aufgestellt sind und wo es meist einen Platz für Lagerfeuer gibt. Das schwedische Jedermannsrecht gestattet es zwar, überall für eine Nacht zu zelten, wo man niemanden stört, aber wenn einem ein solcher Basiskomfort geboten wird, warum sollte man sich dann verweigern - zumal wir den ganzen Tag niemandem begegnet sind und nicht befürchten, daß solche Plätze von Touristen überlaufen sind. In der Bucht von Kilnäset bauen wir also unsere Zelte auf.

Am nächsten Morgen herrscht immer noch das unglaubliche Sommerwetter, das alle diejenigen Lügen straft, die uns vor einem regenreichen Urlaub gewarnt hatten ("Schweden, da ist es doch kalt und unbeständig. Mit Boot und Zelt, wollt ihr euch das wirklich antun?"). Mit leichtem Rückenwind gleiten wir bei fast gespenstischer Stille durch den See - bis...

"Das ist doch Beethoven!" "Wo kommt der denn her?" Wir trauen unseren Ohren nicht: Weit und breit kein Haus zu sehen und über dem See schwebt Beethovens Musik. Dem gehen, nein, fahren wir nach! Während die Musik immer lauter wird, nähern wir uns einer kleinen Insel, die dem östlichen Seeufer vorgelagert ist. Dort scheint die Quelle dieser ungewöhnlichen Kulturberieselung zu liegen. Und tatsächlich, nachdem das Konzert (inzwischen wurde Beethoven auch mal abgelöst) nun fast ohrenbetäubend geworden ist finden wir ein Häuschen mit Anlegesteg von dessen Terrasse das Spektakel ausgeht.

Erstaunt über unser Auftauchen schaltet ein älterer bärtiger Mann das Radio abrupt ab und kommt hinunter zu uns zum Anleger. Lachend erklärt er uns, daß hier in kilometerweitem Umkreis niemand außer ihm wohne und er bei seinen Spaziergängen im Wald eben gern klassische Musik höre. Früher sei er Kapitän gewesen und habe die Weltmeere befahren - ja, Hamburg kenne er auch gut - und nun, als Pensionär wohne er eben hier in der Einsamkeit. Aber nur im Sommer.

Amüsiert und ein wenig mit dem Kopf schüttelnd über diesen skurilen Typen fahren wir wieder los, denn wir wollen sein Konzert nicht allzu lange unterbrechen - und tatsächlich, nach wenigen Paddelschlägen befinden wir uns wieder im Konzertsaal.

Unsere Fahrt geht weiter nach Norden. Am westlichen Ufer öffnet sich eine Bucht, an deren Ende der kleine Ort Nössemark liegt. Wir bleiben allerdings in der Nähe des östlichen Seeufers, denn nach Zivilisation oder gar Kultur steht uns der Sinn heute nicht mehr. Allerdings entgehen wir der realen Welt doch nicht ganz, denn vor uns taucht ein gelbes Ungetüm auf, das sich rasch als Autofähre herausstellt und uns hier in der Abgeschiedenheit der Natur ob seiner Größe etwas überdimensioniert erscheint. Nun, da es bereits später Nachmittag geworden ist und etwa eine Seemeile hinter der Fähre eine sandige Bucht lockt, beenden wir unsere Fahrt hier und bauen das Nachtlager auf.

Am Morgen kurz nach Sonnenaufgang werden wir durch ein Geräusch geweckt, das sich anhört, als ob jemand mit den Fingernägeln über unsere Zeltkuppel kratzt. Ein ungebetener Besucher? Tiere? Leise öffne ich das Zelt und schaue hinaus: Nichts zu sehen, nichts mehr zu hören. Also wieder in den Schlafsack zurück und erst einmal abwarten. Nach kurzer Zeit wird wieder gekratzt und ich schaue abermals: Nichts!

Jetzt bin ich wirklich wach und stehe endgültig auf, um mich im See zu erfrischen - und was sehe ich? Direkt neben unseren Zelten sind mehrere Elchspuren im feuchten Sand (nicht nur Hufabdrücke, sondern auch Hinterlassenschaften einer gesunden Verdauung). Offensichtlich waren in der Nacht mehrere Tiere hier zum See gekommen, um zu trinken. Wie gut, daß wir fest geschlafen haben. Nur, die Elche können nicht das kratzende Geräusch verursacht haben. Wer war denn das nun?

Noch während des Gedankens kommt die Antwort: Als ich still stehend die Elchspuren begutachtete, hatte eine kleine Gruppe von Vögeln offenbar genug Mut gefunden, ihre Morgenbeschäftigung wieder aufzunehmen, nämlich auf unserem Igluzelt Landeübungen durchzuführen. Von einem nahen Baum fliegen sie mit vorgestreckten Füßen auf das Zelt, kratzen mit den Krallen über die Rundung des Daches und fliegen wieder in den Baum zurück - mehrfach hintereinander; das scheint richtig Spaß zu machen. Als ich darüber laut lache, fliegen sie weg und der Spuk hat ein Ende.

Es ist Donnerstag, der 26. Juli, und wir wollen jetzt in die Nähe von Lennartsfors gelangen, denn dort erwartet uns ein Telegramm, in dem stehen soll, wo und wann genau das dritte Boot zu uns stoßen wird. Um direkt dorthin zu kommen müßten wir aus dem Stora Le nach Norden in den Foxen fahren und dann etwa zwei bis drei Seemeilen wieder zurück nach Süden in den Lelången. Da wir aber zunächst noch weiter nach Norden in den Töcken wollen, beschließen wir, im Stora Le zu bleiben und mit einem Kompaß quer durch den Wald zu Fuß nach Lennartsfors zu gehen, um das Telegramm abzuholen.

Komme nicht! Otto. steht in dem Telegramm, das wir nach mühsamer Wanderung durch dichtes Blaubeergestrüpp und morastiges Waldgelände bei regnerisch trübem Wetter in Lennartsfors erhalten - und wir haben noch Glück, es überhaupt bekommen zu haben, denn heute am 27. Juli schließt das lediglich im Sommer geöffnete Postamt und am Wochenende beginnt die Wintersaison. Angesichts des bislang überwiegend guten Wetters und der angenehmen Wärme (Captain Morgan, der heute mit Helmut und Ute am Lager geblieben ist, mußte überhaupt noch nicht zum Einsatz kommen) sind wir überrascht, aber wahrscheinlich ist das Klima hier in der Regel doch meist so, wie es uns vor der Reise prophezeit wurde und wir erleben die sprichwörtliche Ausnahme.

Das Wetter wird zum Abend etwas besser aber die Stimmung im Lager ist bedrückt, als wir von der knappen Absage berichten. Jetzt kann der Captain endlich seine Qualitäten beweisen - zumal wir die Bestände nur noch durch 12 (vier Personen und noch drei Wochen Urlaub) teilen müssen und nicht durch 18. Es wird eine lange Nacht, in der uns nicht friert. Nur der Flötenhein (unser Wasserkessel) bekommt vom Lagerfeuer Spuren, die er bis heute, über 20 Jahre später, nicht wieder losgeworden ist.